Andrea Heller — Quantensprung in eine neue Dimension von Adrian Dürrwang, Fokus im Kunstbulletin, 2019

Fokus

Die Ausstellung von Andrea Heller im Centre Pasquart bietet ­einen Rückblick auf das Werk der Künstlerin, die sich mit unverwechselbaren Tuschezeichnungen und Aquarellen von komplex gewachsenen Körpern, Clustern und Strukturen einen Namen gemacht hat. Zugleich zeigt sich ihre vielversprechende Suche nach neuen skulpturalen und installativen Ansätzen.

von Adrian Dürrwang

Im Foyer des Kunsthauses Pasquart in Biel empfängt einen die Arbeit ‹Ohne Titel (Verwirrung)›, ein charakteristisches Grossformat aus dem Jahr 2014. Diese zeigt ein violett-blaues, verschlungenes Knäuel – schrecklich-schön – vielfältige Assoziationen vom Seilgewirr bis zum Gekröse der Eingeweide weckend. Einzelne Spuren verweisen dabei auf die ganz spezielle Aquarelltechnik von Heller. Sie arbeitet mit Farbflächen, die verlaufen oder Trocknungsringe bilden, sich gegebenenfalls überlagern, aber sie setzt keine Punkte oder Pinselstriche.

Kontrolle und Prozess
Hellers Arbeiten entstehen in einem geplanten «freien» Prozess, könnte man etwas paradox formulieren. Sie überlegt sich, welche technischen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit sie mit den Farben die Wirkung erreicht, die sie anstrebt: Muss sie das Blatt hängen oder auf dem Tisch platzieren? Dann reiht sie im Prozess die sich wiederholenden Farbflächen aneinander – allerdings ohne feste Vorstellung, zu welcher Formation das Gesamte schliesslich zusammenfindet. «Die Papierarbeiten wachsen organisch und architektonisch …», betont sie im Interview mit der Direktorin des Pasquart Felicity Lunn im Katalog zur Ausstellung. Bemerkenswert sind Arbeiten wie ‹Wall (a specific place)› von 2019, die in Biel erstmals zu sehen sind. Hier führt Heller ihre spezifische Technik gelungen auf roher Baumwolle weiter und befragt gekonnt das Thema der Objekthaftigkeit von Papier und Textil.

Konstruktion und Wachstum
Heller interessiert das Spannungsfeld zwischen Gebautem und Gewachsenem. Dies verdeutlicht ein Vergleich der ältesten Blätter der Ausstellung, der Serie ‹Meteorit› von 2005/2006, mit der neuen, ortsspezifischen Installation ‹L’endroit de l’envers›, zwei gigantischen «Kartenhäusern», auch wenn die beiden Werke auf den ersten Blick wenig gemein haben. Die Installation nimmt fast die gesamte Höhe von 5,8 Meter der ‹Salle Poma›, des grössten Raumes des Kunsthauses, ein, während sich die Meteoriten als kompakte Formen nur auf einem Blatt Papier ausbreiten. Einzig die schwarze Farbe scheint die unterschiedlichen Werke zu einen. Die Holzplatten, auf die Heller tagelang mehrere Schichten von Chinatusche aufgetragen hatte, sind nun mit wolkigen,  dunkel verfliessenden Schlieren überzogen, während die Oberfläche der Meteoriten eine fast haptische Qualität suggeriert. Doch beides ist ein Spiel zwischen Körper, Raum und Dekonstruktion, eine wechselseitige Beziehung, die das Werk derKünstlerin wie ein roter Faden durchzieht. Die Installation offenbart ihre fragile Konstruktion erst, wenn man sie umrundet. Dabei wird sie von der geschlossenen zur offenen Form, ohne – dies suggeriert bereits der Titel – einen idealen Standort zuzulassen. Auch die Meteoriten zeigen erst aus der Nähe, dass deren «harte» Oberfläche ebenfalls aus der Grundform des Dreiecks gewachsen ist.

Natur und Architektur
Das Dreieck verweist für Heller unter anderem auf die einfachste Form der Behausung. Wie die Kuppel oder die Raute sind es solche Grundformen, die sie in Büchern der Hippie-Ära – ‹Shelter› oder ‹Nomadic Furniture› – wiederfindet und die sie inspirieren: Es sind Publikationen mit reichem Bildmaterial zu «Höhlen, Hütten, Zelten, Kuppeln» und Anleitungen zur Konstruktion solch temporärer Wohnstätten indigener Völker, wie Olivier Kaeser in seinem Katalogbeitrag ausführt. Diese Referenzen werden ergänzt durch ein persönliches Archiv aus in Zeitschriften oder im Internet gefundenen sowie eigenen Fotos. Das Archiv bildet «mehr oder weniger unmittelbar einen Nährboden für das gesamte Werk der Künstlerin», schreibt Kaeser. Seit 1998 wächst es und umfasst eine Vielfalt an Themen, von Naturkatastrophen über Politik,Landschaften und Gebäuden bis zu Kuriositäten. Etwas pathetisch könnte man vielleicht von einem «Panoptikum der Welt» sprechen. Es offenbart sich ein fast anthropologisches Interesse an Formen und Strukturen sowie Bebauungen und Eingriffen des Menschen in die Natur und an vielfältigen damit verbundenen Grundsatzthemen wie etwa Schutz und Sicherheit oder Bedrohung respektive Bedrängung. Immer schwingt in den provisorischen fragilen Bauten der Künstlerin auch die Frage nach einer Alternative zu unserer Gesellschaft mit. Darüber hinaus interessieren sie Zwischenzustände, die sich im Organischen und in der Natur ausbilden. So ist bei ihr das Hybride und Anthropomorphe in unterschiedlichster Form anzutreffen: kristallin, wachsend, wuchernd oder clusternd … Manchmal lassen sich Geschlechtsorgane, Wolken, Netze oder Vulkanlandschaften erahnen – doch immer bleiben die Formen vielschichtig. Eine zentrale Rolle spielt die Verführung, dochebenso entschiedend sind die vielen versteckten «Irritationsmomenten» ist, auf die auch die Künstlerin im Interview hinweist: «Solche  Brüche und Kontraste sind mir wichtig und ziehen sich durch alle Themen in meiner Arbeit. Sie machen eine mehrschichtige Lesbarkeit möglich.»

Repetition und Innovation
Die Ausstellung bot sichtlich Anlass und Gelegenheit, Neues auszuprobieren, wobei die 18 Monate Vorbereitungszeit, die 800 Quadratmeter und die Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld den Rahmen absteckten. Nach einer Zeit in Paris lebt Andrea Heller seit 2014 mit Familie und drei Kindern in der Nähe von Biel und verfügt über ein ruhiges Atelier. In Anlehnung an die DIY, die «Do it yourself»-Kultur der Siebzigerjahre, wie es Olivier Kaeser bezeichnet, ist für Heller das Atelier Ausgangspunkt ihres Schaffens. Aus dem Interview: «Das Handwerkliche hat einen zentralen Platz in meiner Arbeit, es leitet mich immer zu einem Medium. Meine Herangehensweise ist nicht akademisch, […] Ich arbeite eigentlich recht intuitiv; tatsächlich ist die Intui­tion für mich wie ein Werkzeug, das ich bewusst verwende, um meine eigene Sprache zu verfeinern.» In einem solchen Prozess, gar einem kleinen Marathon, entstanden erstmals Gipsgüsse, die Serie ‹Terrain vague›, welche zwischen organischer Form und Landschaft oszilliert und die endlos lange Vitrine im zweiten Stock des Kunsthauses sinnvoll bestückt. Überdies hat die Künstlerin die vielleicht etwas gar bunten, gläsernen Konusformen in Auftrag gegeben und somit Vorbilder aus ihrem Werk in die dritte Dimension transformiert. Die Objekte vermögen viele zu begeistern, auch wenn sie zuweilen das Moment der Verführung etwas gar stark gewichten. Der Charakter einer fortwährenden Recherche zeigt sich auch in den Titeln der jüngsten Werke. Sowohl derjenige der Gipsarbeiten wie auch die der Textilarbeiten oder der Installation kreisen um Fragen der Ortlosigkeit, der Perspektive und des Standorts. Somit ist diese Überblicksausstellung weniger retrospektiv zu verstehen, auch wenn sich neben älteren Arbeiten sogar ein verstecktes Werk aus Studienzeiten eingeschlichen hat, wobei das Video wohl nur von künftigen Kunstbegeisterten wahrgenommen werden kann – mehr sei nicht verraten. Die Ausstellung illustriert vielmehr eine Vielzahl aktueller Entwicklungen im Werk von Andrea Heller. Sie selber bezeichnet  diese angesichts des masstäblichen Quantensprungs ihrer grossen Installation scherzhaft als «Katapult» und als Sinnbild dafür, dass sie aus «einer gewissen Starre herausgefunden» habe.

Adrian Dürrwang, Kunsthistoriker, freier Autor und Lehrer, lebt in Bern. a_duerrwang@hotmail.com.