Linien ziehen in der realen Welt – Drawing Lines in the Real World by Aoife Rosenmeyer, 2019

(deutsch / english)

Auf seiner Fahrt durch eine entlegene Gegend macht ein Tourist halt, um einen Einheimischen nach dem Weg zu fragen.
«Na ja», meint dieser, «von hier würde ich nicht losfahren …»

Diese Anekdote aus einer Zeit, in der noch keine Satellitennavigations-systeme zur Verfügung standen, scheint sich über den Mann auf der Strasse lustig zu machen. Dieser allerdings war in der Lage, sich eine Perspektive vorzustellen, die über die menschliche Erfahrung hinausgeht, denn seinen Weg vom Anfang bis zum Ende zu wählen, das ist ein Luxus, den wir
nicht haben. Wir bewegen uns um all das herum, was wir antreffen, und fügen uns in die vorgegebene Topografie ein. Andrea Heller nimmt den Ausstellungsraum – dieses aussergewöhnliche, eigenständige, isolierte Konstrukt – mit Werken ein, die dazu angetan sind, uns zum Nachdenken anzuregen über das Wesen, die Ästhetik und die Architektur von Form, die nicht auf einem Konzept, sondern vielmehr auf den Gegebenheiten
der Realität beruht.
Die dunkle Installation L’Endroit de l’envers reicht beinahe bis zum Plafond der Salle Poma. Ameisen gleich, denen sich auf ihren Pfaden Hindernisse in den Weg stellen, treffen die Besucherinnen und Besucher hier auf ein massives, dunkles Gebilde, dessen Struktur sich beim Wandeln durch den Raum allmählich erschliesst und sich als Reihe aufeinandergestapelter
dreieckiger Objekte präsentiert: die ursprünglichste aller schutzbietenden Formen, hier vervielfacht. Mein Ansinnen, der Bedeutung des Titels auf den Grund zu gehen, führte mich auf eine Internetseite, die mir als Übersetzung «der falsche Platz» anbot und keinen weiteren Deutungsspielraum zuliess. Wer über bessere Französischkenntnisse verfügt, kann aus dem Titel allerdings verschiedene Interpretationsmöglichkeiten herauslesen: So könnten richtig und falsch eins sein, oder aber das Falsche kann auch Richtiges in sich bergen, aussen könnte genauso gut innen sein. L’Endroit de l’envers kann aus jedem beliebigen Winkel betrachtet werden, nicht aber von oben. Tatsächlich sehe ich gar nicht das Werk selbst, sondern eine digitale Darstellung, aus der ersichtlich ist, wie das fertiggestellte Objekt einmal aussehen soll. Besonders zuverlässige Aussagen sind von meinem
Blickpunkt dementsprechend nicht zu tätigen. Dennoch, in Zeiten von SketchUp und anderer vergleichbarer, leicht zugänglicher Software sind wir heutzutage schon recht versiert in der Interpretation solcher Renderings. Visualisierungen können um jede noch so unnatürliche Achse gedreht werden, und durch die bereits weit verbreiteten Drohnenaufnahmen ist es gar nichts Besonderes mehr, alle möglichen Szenen aus der Vogelperspektive betrachten zu können. Als Michel de Certeau in den 1980er Jahren den Blick auf New York vom World Trade Center aus beschrieb, tat er das noch aus einer privilegierten und aussergewöhnlichen Perspektive. «Als Ikarus dort oben […] kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen und endlosen Labyrinthen vergessen», so Certeau, der dazu aber auch anmerkte, dass es eine Illusion sei, die Stadt aus der Entfernung erfassen zu können.
Jede Stadt kennt sie – die Spannungen zwischen ihren Bewohnern und deren Handlungen einerseits und der allumfassenden Autorität der Verwaltung andererseits. Die Bewohner machen gemeinsame Sache,
sie wollen «ihr eigenes Spiel spielen und dabei – ein Lapsus der Überschaubarkeit – überall wieder die Undurchsichtigkeiten der Geschichte einführen.» Diese Spielchen lassen an Fallen denken, in die nichts Böses Ahnende comic-haft tappen, oder an verborgene Notausstiege für individualistische Stadtbewohner, die sich offiziellen Aufzeichnungen zu entziehen suchen. Betrachtet man Hellers Installationen unter diesem Aspekt, dann werden ihre Seiten zu Falltüren, durch die man hindurchkommt, oder aber zu Schwingtüren, die sich zwar direkt vor unseren Augen befinden, die wir aber dennoch nicht sehen. Auch ein Kartenhaus kommt hier ins Spiel, schnell gebaut und noch viel
schneller wieder zerstört.

Bernard Rudofskys bedeutendes Werk Architektur ohne Architekten aus dem Jahr 1964, eine Sammlung von Beispielen traditioneller Architektur, hat ähnliche Publikationen nach sich gezogen. Diese Art der Architektur führt Traditionen fort, sie beruht nicht auf Entwürfen, sondern auf dem, was als notwendig erachtet wird. Sie unterwirft sich den Bedürfnissen
ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und verwendet zur Verfügung stehende Materialien. Der aus dem Englischen übersetzte Untertitel des Werkes «Eine kurze Einführung zu Architektur ohne Stammbaum»
(auf Deutsch dann etwas neutraler als «Eine Einführung in die anonyme Architektur» veröffentlicht) bringt allerdings zum Ausdruck, dass diese geografisch abgelegenen, zweckmässigen Gebäude doch mit einer gewissen Herablassung betrachtet wurden, ein Eindruck, der durch die Perspektive der Luftaufnahmen noch verstärkt wurde. Hellers 2019 entstandene Reliefserie Terrain vague lässt an Rudofskys Buch denken – allerdings zunächst hinsichtlich der Ästhetik und nicht der Methode. Von diesen kleinen, ungebrannten Objekten, die wie mit Speisen beladene Teller wirken, wurden zunächst Negativformen hergestellt, mit deren Hilfe in der Folge Gipsgüsse angefertigt wurden. Die Formen sind gleichsam vertraut
und fremd, die Massstäbe variieren: Bei einem Objekt könnte es sich um den Plan einer Siedlung handeln, ein anderes, mit purpurroten Rändern versehen, könnte eine grosse, hervorstehende Brustwarze darstellen, ein drittes erinnert an ein grosses Schalentier. Eine leuchtende, rosafarbene Röhre, verschlungen wie ein Darm, ist gleichzeitig ein kleiner Kegel auf einem Hügel – ein Vulkan, gesehen aus der Weltraum-Perspektive.
Hellers Interesse an traditioneller Architektur zeigte sich allerdings zunächst im Kleinen und beeinflusste die ersten Spuren, die sie hinterliess, sowie die Art und Weise, wie ihre Werke entstehen. Bei ihren Zeichnungen lässt sie sich im Wesentlichen von grafischen Prinzipien und Strategien leiten, eine einheitliche Gestaltung steht dabei nie im Mittelpunkt. Das Resultat hängt vielmehr davon ab, welche Bilder, welche Formen aus den von ihr verwendeten Medien und Materialien hervorgehen können. Was
daraus entsteht, ist organisch, oft kristallin, lässt sich nicht in Kategorien zwängen – Variation ist ein wesentliches Charakteristikum. Ein Beispiel dafür ist die unbetitelte Tuschearbeit auf Papier aus dem Jahr 2019: Sie zeigt ein halbkreisförmiges Gebilde, das eine wenig stabile Basis für eine Gruppe von in helleren Tönen gehaltenen Dreiecken bietet – obwohl das dichte Dunkel ihm durchaus Schwere verleiht. Darüber bilden zwei Dreiecke den Rahmen für ein drittes; an der Spitze thront der Geist eines
vierten. Bei einer weiteren Serie, Magnitudes, 2019, bestehend aus gläsernen und keramischen Objekten, wird die Ungewissheit von Massstab und Oberfläche noch verstärkt. Die bemalten Keramikobjekte sind Miniaturberge, infernalische, fantastische Landschaften – oder aber äussert konzentrierte Formen, die an kleine Gegenstände wie etwa Herzmuschel-schalen oder glockenförmige Blumen erinnern und deren graduelle Farbgebung weitere strukturelle Gliederungen andeutet, die dem Auge allerdings verborgen bleiben. Die geblasenen Glaselemente der Serie sind ineinander angeordnet, es ist unmöglich, zu wissen, ob tatsächlich – wie üblicherweise – das, was sich hinter der äusseren Glasschicht verbirgt, der
Gegenstand unserer Betrachtung sein soll. Es ist unmöglich, es aus dem Kontext gerissen zu sehen. Als ebensolche Herausforderung präsentiert sich die Serie Vitrine von 2015: Auf Sockel sind unregelmässige Kuppeln aus dreieckigen, flächigen Glaselementen aufgesetzt. Von Weitem sehen diese fragilen, instabilen Strukturen, deren Aufgabe es ist – so sagt uns zumindest der Titel –, die auf den Sockeln liegenden Bilder zu schützen, so zart wie Seifenblasen aus. Spielt es eine Rolle, ob wir uns innen oder aussen befinden? Wer legt fest, was oder wo der richtige oder der falsche Platz ist? Innen und aussen sind in Andrea Hellers jüngsten Werken keine eindeutig definierten Positionen. Zudem widersetzen sie sich dem uns innewohnenden Drang, die Übersicht behalten zu wollen. In diesem Moment der Irritation fragen wir uns, was Perspektive überhaupt bedeutet. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass wir das, was wir sehen, auch verstehen. Manchmal verstärkt eine solche Übersicht die Autorität, Rechte festzulegen, zu kategorisieren oder zu beherrschen, was überblickt wird – eine Autorität, die wir mitunter unreflektiert gewähren lassen. Im Gegensatz dazu führt uns Heller wieder zum Greifbaren zurück, sei es ein Baustein oder eine einfache Geste, sei es im zellulären oder monumentalen
Massstab. Ihre Formen manifestieren sich als vorsichtig in Erscheinung tretende Architektur, der besondere Individualität innewohnt. Sie mögen frei auf dem Blatt schweben, die Idee, auf der sie basieren, und ihre Entstehung sind aber fest in ihnen eingeschrieben. Das Werk steht in Beziehung zu dem Körper, der es erschaffen hat, und dem Kontext, in dem er sich bewegt. Das Modell von L’Endroit de l’envers war in Hellers Atelier am Rand eines Tisches platziert. Die Verbindungen von einer Struktur zur nächsten und zum Boden erinnerten mich an die Katzentreppen, die in der Schweiz überall zu finden sind. Diese pragmatische Architektur zieht jene Linien, die Tiere aus Fleisch und Blut brauchen, um sich quer durch die
diversen Facetten abstrakter architektonischer Visionen zu bewegen. Gelegentlich ist durchaus eine Flugbahn zu erkennen – jedoch verläuft sie eingebettet in das analoge Leben.

(english)

Drawing Lines in the Real World
Driving in a remote region, a tourist stops to ask a local man for directions.
‘Well,’ he replies, ‘I wouldn’t start from here…’

This pre-sat-nav anecdote would have us mock the man on the road. He, however, could conceive of a perspective that was beyond human experience, for to choose one’s trajectory from start to finish is a luxury
we never have. We navigate around what we encounter and settle into the topography we are given. Andrea Heller occupies the exhibition space – and the exceptional construct it offers of a discrete, isolated place – with works that make us consider the nature, aesthetics and architecture of form produced not by design, but building on the contingencies of reality. The dark installation l’Endroit de l’envers almost reaches the ceiling of the Salle Poma. Visitors encounter its solid, dark flank like ants encounter an obstacle in their path, though by moving around the room the structure and path around it become apparent. It is a series of triangular forms heaped on
top of each other: the most rudimentary of shelters, multiplied. Trying to pin down the title’s significance, an online translation site informed me it meant ‘the wrong place’, leaving no room for ambiguity. Better French speakers read a title brimming with contemporaneous possibilities: that right and wrong place might be one, or that there might be a right within a
wrong, that an outside might equally be an inside. We can look up at l’Endroit de l’envers from every angle, but not down. In truth, I cannot see the real work, for I am looking at a digital rendering of what it should look like once built, and my viewpoint is therefore unreliable. Nonetheless, we’ve grown ever more accustomed to reading renderings now that SketchUp and comparable software is easily accessible and widely used, visualisations that can be spun around unnatural axes, while the proliferation of drone filming also means that an omniscient view of any scene from above is commonplace. When Michel de Certeau wrote in the 1980s about the view of New York from the World Trade Centre, his view was still privileged and exceptional. ‘An Icarus flying above […] can ignore the devices of Daedalus in mobile and endless labyrinths far below,’ he put it, while noting that to view the distant city as a legible text was an illusion.1
Any city is comprised of tensions between individuals and their actions and the overarching authority and machinations of the city administration. Dwellers connive to make ‘trap-events, these lapses in visibility, [with which they] reproduce the opacities of history everywhere’.2 ‘Trap-events’ is a delightful turn of phrase that conjures cartoonish falls for unsuspecting
characters, or an unseen escape hatch for the individualistic urbanite who wants to evade the official record. Look at Heller’s installation with this in
mind, and her sides become trap-doors that allow passage or swinging doors hiding in plain sight. A house of cards is in play here too: quick to build, even quicker to demolish.
Bernard Rudofsky’s Architecture Without Architects from 1964 brought together images of vernacular building traditions; it was influential and spawned other similar publications. This architecture does not follow a blueprint but continues a tradition and is constructed out of necessity; it has adapted according to its inhabitants’ needs and employs the materials
to hand. The full title of the book, however, ‘A Short Introduction to Non-Pedigreed Architecture’, articulates the condescension with which these kinds of geographically remote, informal construction were regarded, the dominating perspective heightened by aerial photography. Heller’s Terrain vague series of reliefs from 2019 first brings Rudofsky’s book to mind for aesthetic rather than methodological reasons. These small, unfired pieces, akin to as many laden dishes, have been formed in negative, then cast in
plaster. The shapes are familiar and alien at once, and scale see-saws between them: one might be a map of a settlement, another, blushing purple at its edges, is a large protruding nipple, a third is like a large
shell-fish. A glowing pink tube curls up together as if an intestine, while alongside it is a small cone on a mound – a volcano viewed from space. Yet Heller’s interest in vernacular building initially becomes manifest at a small scale, influencing how she begins to make marks and how works evolve. Her drawings are predominantly guided by graphic principles or strategies rather than the realisation of an overall form, and the outcomes are thus determined by how her media, her materials to hand, allow an image to emerge or enable a particular shape. The results are organic and often crystalline, yet quietly unruly too, for variation is a given. Take the untitled ink on paper work from 2019 in which a semi-circular volume forms an unstable base, though its heavy darkness lends it gravity, for a clutch of lighter triangles. Above, two triangles form the frame for a third; the ghost of a fourth rests on top. Another series, Magnitude, 2019, is composed of glass and ceramic objects and heightens the uncertainty of scale and surface. The ceramic, painted objects are miniature mountains, hellish, fantastical landscapes – or intensely concentrated shapes reminiscent of smaller things, such as cockle-shells or bell-shaped flowers, their gradated
colour suggesting further levels of structural detail beyond what the eye can see. The blown glass elements of the series place one delicately coloured cloche inside another, yet we cannot say that that which is behind glass – as is customary – is the object for our consideration. It cannot be divorced from its context. We are similarly challenged by the Vitrine series from 2015, plinths topped by irregular domes made with triangular panes of sheet glass. They teeter, looking from a distance as delicate as soap bubbles, yet the title tells us that these unsteady structures are the protective housing for the images placed below them on the plinths.
Does it matter if we are inside or outside? Who determines which or where is the right and wrong place? In these recent works by Heller, inside and outside are porous positions. What is more, the works frustrate our search for habitual oversight; within that momentary irritation we might question what we assume that perspective brings. It is not self-evident that we will understand that which we can see. Sometimes oversight underlines authority, rights to define, to categorise or master what is surveyed – authority we may concede unthinkingly. In contrast, Heller draws us back to a tangible unit, a building block or a direct gesture, as easily on a cellular as on a monumental scale. Her forms are careful, emergent architecture
with inherent individuality. They may float freely on the page, but are marked by the conditions of their conception and making. This work relates to the body that makes it and the context she inhabits. In Heller’s studio, a maquette of l’Endroit de l’envers was perched on the edge of a table. The bridges from one structure to the other, and to the ground, remind me of the cat ramps that prevail in Switzerland. This is pragmatic architecture that draws the lines that flesh and fur animals require across the faces of abstract architectural visions. Occasionally a trajectory can really be drawn, but it cuts through embedded, analogue life.

(full texts in deutsch, français and english in the catalogue)